Bruno Bettelheim

Warum Kinder Märchen brauchen

Bettelheims Hauptthese ist:

„Oberflächlich betrachtet lehren Volksmärchen wenig über Verhältnisse des modernen Lebens in der Massengesellschaft.“

 

ABER

„Über die inneren Probleme des Menschen und über die richtigen Lösungen für seine Schwierigkeiten in jeder Gesellschaft erfahren Kinder und Erwachsene mehr als durch Geschichten anderer Art.“

 

Das Märchen vermittelt tiefe Wahrheiten des Lebens. Es bringt grundlegende Ängste und Konflikte des Kindes zur Anschauung: wie zum Beispiel den Ödipuskonflikt, Geschwisterrivalitäten, Angst vor der Ablösung. Das Märchen mit seiner dem Problem des Kindes gegenüber neutralen Bildlichkeit lehrt das Kind den Umgang mit widersprüchlichen Gefühlen.

 

Vor allem liegt der Wert jedoch darin, daß das Kind durch das Märchen in diesen Konflikten begleitet wird.

 

1.     Im Märchen wird exemplarisch die menschliche Entwicklung zur Anschauung gebracht. Es fordert das intuitive Erfassen von Gesetzmäßigkeiten des Lebens und weist Wege auf, wie Leben gelingen kann.

ð    Märchen fördert analoges Denken und entspricht damit der kindlichen Denkweise.

2.     Märchen als Ordnungshilfe/ Strukturierungshilfe der Welt.

- Charakteren des Märchen sind „typisch“. Klare Charakteren die nicht ambivalent sind. Es herrscht ein einzelner Wesenszug vor,der in Kombination mit den anderen Auftauchenden Charakteren ein Gesamtbild ergibt. Dies entspricht dem kindlichen Verständnis und dient der Überschaubarkeit.

3.     Gut und Böse wird im Märchen gegenübergestellt, was die Differenzierung zwischen „gutem“ und „bösem“ Verhalten für das Kind erleichtert (hier wird also regulierend auf die Ich-Entwicklung nach Freud eingegriffen)

 

ð    Fazit: Diese Struktur des Märchens fördert die kindliche Identitätsentwicklung.

4.     Märchen als Hilfe zur Sublimierung innerer Spannung:

-         Märchen bietet dem Kind ein Modell an, auf das es seine verbotenen Phantasien projizieren und ähnlich wie im Traum ausleben kann.

 

„Um einen tiefen Sinn finden zu können, muß man fähig werden, die engen Grenzen einer egozentrischen Existenz zu überschreiten und darauf zu vertrauen, daß man einen bestimmten Beitrag zum Leben leisten wird“

ð     Erziehung hat die wichtige Aufgabe, dem Kind dabei zu helfen, daß es seinem Leben Sinn abgewinnen wird. Dabei spielen zwei Faktoren eine Rolle:

  • ·        Das, was Kinder von ihren Eltern übermittelt bekommen (zunächst repräsentiert als Über-Ich)
  • ·       

 

Damit Literatur das Leben des Kindes bereichern kann, muß sie

*die PHANTASIE anregen und ihm helfen, seine VERNUNFT (Verstandeskräfte) zu entwickeln und seine Emotion zu klären.

„Gute Literatur“ greift also ganzheitlich an und wirkt sich positiv auf Bewußtes, Unbewußtes – möglicherweise auch auf den Umgang mit Verdrängtem – aus.

Genau diese Kriterien, so Bettelheim, erfülle das Märchen mehr als jede andere Gattung,. Es liefert in seiner reichhaltigen Interpretationsvielfalt immer wieder neue „Denk- und Empfindensschwerpunkte“, die entsprechend der jeweiligen Lebensphase variieren können. Das Märchen geht auf Ängste, Sehnsüchte und Schwierigkeiten des Kindes ein und bietet zugleich Lösungsmöglichkeiten, die das Kind intuitiv zu erfassen vermag.

 

Das Märchen wirkt also auf dreifache Weise im Kind:

  • ·        es regt die Phantasie an
  • ·        es hilft, die Verstandeskräfte zu entwickeln
  • ·        es hilft dem Kind, seine Emotionen zu klären

ð     Das Märchen bietet „allumfassende“ Lösungsmöglichkeiten, ohne diese bewußtmachend oder moralisierend zu fordern. Befindet ein Kind sich in einer Problemsituation die es zu diesem Zeitpunkt nicht bewältigen kann so erzwingt das Märchen nicht die Auseinandersetzung.

 

Die Märchen entsprechen weiterhin der WELTSICHT des Kindes:

  • ·        erstes Wissen erlangt das Kind über seine Sinne

=> dies entspricht der Form des Märchens, in dem das Geschehen im Vordergrund steht. Auch die Gefühle der Helden werden als Handlung vor Augen geführt und nicht rational erklärt. Der Held empfindet, nimmt wahr setzt um. Das Märchen erklärt also nicht im rational –logischen Sinne.

 

 

 

 

Das Märchen entspricht der LERNMETHODIK des Kindes:

  • ·       

=>Die menschliche Lernmethodik ist eng an das Symbol gebunden. Ein verinnerlichtes Symbol evoziert auch bereits Gelerntes.

 

Das Märchen entspricht dem „Magischen Denken“ des Kindes während der ersten wichtigen Initiations- und Individuationsphase:

Magische Handlungsrituale verweisen auf den Wunsch des Kindes, die Welt zu verwandeln (etwa im Alter zwischen 10 und 12; es beginnt ja., biologisch selbst „verwandelt“ zu werden). Rationales Denken befindet sich noch im Aufbau. Dem Kind stehen noch keine naturwissenschaftlichen Erklärungen zur Verfügung (warum es blitzt) -> Das Kind klärt diese Problemstellungen anhand der Lösung, daß die Phänomene höheren, mächtigeren Wesen zugeschrieben werden. (hier sei nochmals auf die Welterklärung der Naturvölker erinnert.)